Reportage – Ostschweiz am Sonntag

Eine kleine Schweiz in Kambodscha

Am Anfang stand das Schicksal einer kambodschanischen Bettlerin mit verätztem Gesicht. Ihr Schicksal bewog den bekannten Toggenburger Fotografen und Künstler Hannes Schmid, vor Ort ein Hilfsprojekt aufzubauen.

Plastikabfälle, streunende Hunde, lethargisch blickende Kinder in verdreckten Kleidern und abgemagerte Kühe am Strassenrand. Die Bilder wiederholen sich auf dem Weg von Phnom Penh, der Hauptstadt Kambodschas, bis in die Provinz Kampong Chnang. Am Ziel der 80 Kilometer langen Reise liegt die Anlage von «Smiling Gecko».

Initiiert vom bekannten Toggenburger Fotografen und Künstler Hannes Schmid wird hier der kambodschanischen Bevölkerung auf vielfältige Weise geholfen. Und trotzdem will der 71-Jährige «Smiling Gecko» nicht als Hilfswerk verstanden wissen. Er grenzt sich ab zu traditionellen Hilfsorganisationen, die sich auf ein einziges Ziel beschränkten. Er versteht sein Projekt als ganzheitlich. So umfassend, dass es dereinst über das ganze Land multipliziert werden soll.

Bessere Erträge beim Betteln dank Verätzungen

Angefangen hat alles ausserhalb Kambodschas. Auf einer Reise in Thailand begegnete Schmid einer kambodschanischen Bettlerin mit entstelltem Gesicht. Es stellte sich heraus, dass ihr die Verletzungen absichtlich mit Säure zugeführt wurden, damit sie bessere Erträge erzielen konnte. Für Schmid war diese Begegnung die Initialzündung. Er informierte sich über Land und Leute, über die Schreckensherrschaft der Roten Khmer. Er reiste nach Kambodscha, sah das Elend in den Slums auf den Abfalldeponien rund um Phnom Penh, in denen ganze Familien wohnen, und wusste, dass er helfen wollte. Aber auch er machte zu Beginn, was alle machen. Er verteilte Geld, er verteilte Essen. «Nachhaltig war das nicht», sagt Schmid heute.

Also überlegte er sich, wie er der kambodschanischen Bevölkerung helfen konnte, sich selber zu helfen. «Eigentlich baue ich die Schweiz vor 60, 70 Jahren im Kleinen nach», erklärt Schmid. Dafür erstand er ein Grundstück von rund 100 Hektaren. Auf 30 davon konnten zwölf Familien in ein traditionelles Holzhaus einziehen und ihren eigenen Landwirtschaftsbetrieb initiieren. Den Start hat «Smiling Gecko» den Familien zwar ermöglicht, nun müssen sie aber selber für ihr Auskommen sorgen. Auch ihre Wohnhäuser kosten Miete. Auf dem Gelände werden zurzeit Früchte und Gemüse angebaut, Eier produziert und Schweine gezüchtet. Bauern aus der Umgebung profitieren ebenfalls: Sie können Hühner und Ferkel kaufen, um ihren eigenen Betrieb zu starten.

Der Fokus auf Nachhaltigkeit hat aber auch einen Nachteil: Bis Geld fliesst, dauert es. Die Verantwortlichen reagierten pragmatisch. «Wir haben eine Hotelanlage gebaut. Touristen zahlen im Voraus. Wenn sie hier sind, haben wir das Geld eigentlich schon», sagt Schmid.

Gastronomische Unterstützung aus dem Toggenburg

Damit aber auch mal jemand länger bleibt, braucht es zusätzliche Angebote. Hier zeigt sich der Pragmatismus von Schmid und seinem Team erneut: Was fehlt, wird ergänzt. Um Gäste anzuziehen, die länger bleiben, gibt es nun ein Yoga-Angebot. Weil zu einem Entspannungsaufenthalt auch Baden gehört, steht nun ein Pool in der Anlage. Und weil man beim Entspannen gut essen will, ist die Küche von «Smiling Gecko» mittlerweile auf Sterne-Niveau angelangt. Das liegt unter anderem an Annagret Schlumpf. Dank ihrer langjährigen Erfahrung in der Gastronomie kann sie Erfahrungen und viel Wissen weitergeben. Seit rund einem Jahr ist die ebenfalls aus dem Toggenburg stammende Küchenchefin nun in Kambodscha. Aus dem geplanten Kurzaufenthalt ist ein längeres Engagement geworden. Fünf bis sechs Jahre will Schlumpf vor Ort sein. Mittlerweile ist sie für weit mehr zuständig als die Ausbildung der Köchinnen und Köche. Fürs Housekeeping und den Empfang zum Beispiel. Und weil schon bald eine neue Grossküche eröffnen soll, hat sie ihren Bruder Charly überredet, sie zu unterstützen. Vielleicht half dabei die Aussicht, auch in Kambodscha nicht auf alles verzichten zu müssen. «Ich habe in Phnom Penh einen Laden gefunden, in dem ich sogar Käse von Willy Schmid aus Lichtensteig kriege», sagt Annagret Schlumpf.

Die Grossküche wird unter anderem nötig, weil immer mehr Schulkinder auf der Anlage ausgebildet werden sollen. Während die ersten Klassen bereits im Unterricht sind, wird nebenan gebaut. Wenn die Klassen einen Jahrgang aufsteigen, sollen neue nachrücken. Entsprechend wächst der Bedarf an Schulräumen. Den Bau übernimmt die eigene Schreinerei. «Für mich war schnell klar, dass wir eine Schreinerei brauchen», sagt Schmid. Da ist er wieder, der Pragmatismus, der dieses Projekt auszeichnet. Die Maschinen der Schreinerei sind zum allergrössten Teil Geschenke. Die Dietfurter Firma Eigenmann hat diese nach einem Brand in einer anderen Schreinerei restauriert und dem Projekt geschenkt.

Weitere Teilprojekte sind realisiert oder werden gerade umgesetzt. So befindet sich seit kurzem eine Fischzucht auf dem Gelände, die gleichzeitig als Testlabor für den ZHAW-Standort Wädenswil fungiert. In absehbarer Zeit soll zudem eine Reismühle entstehen, und in Zusammenarbeit mit der ETH untersucht man Einsatzmöglichkeiten für Bambusholz im Baugewerbe. Auch eine nachhaltige Textilproduktion ist geplant. Denn die Textilindustrie ist in Kambodscha bedeutend.

Das zeigt sich beim frühmorgendlichen Besuch einer bestehenden Fabrik – beziehungsweise deren Vorgelände. Zutritt erhält man nicht. Zu Schichtbeginn werden Tausende Arbeiterinnen – männliche Arbeiter gibt es praktisch keine – herangekarrt. Dichtgedrängt auf der Ladefläche von unzähligen Lastwagen treffen sie ein. Nach einigen Minuten ist der Spuk vorbei. Am Abend wiederholt sich das Bild in umgekehrter Richtung.

Selbst, wenn irgendwann diese und alle künftigen Projekte verwirklicht sein sollten, geht den Verantwortlichen die Arbeit nicht aus. «Smiling Gecko» will sich vergrössern. Ziel ist, bis 2030 an acht Standorten vertreten zu sein. Bis 2050 soll das ganze Land grundlegend umgestaltet sein. Letzteres dürfte Hannes Schmid nicht mehr miterleben. Er wäre dann 104 Jahre alt. Folglich sucht er nach einer Nachfolge. «Ich bin selber zurzeit das grösste Risiko für ‹Smiling Gecko›», sagt er. Im Hinblick auf die Lösung dieses Problems versagt dann auch der allgegenwärtige Pragmatismus für einmal. Es verlangt nach Idealismus.


Dieser Artikel erschien am 15. April 2018 in der Ostschweiz am Sonntag. Er wurde begleitet von einer Multimediareportage.