Portrait mit Video – Ostschweiz am Sonntag

Ein anstrengender Bubentraum

Die Verantwortung ist gross, die Ausbildung hart und der Job eine Herausforderung für das Familienleben. Trotzdem ist die Faszination für die Fliegerei ungebrochen. Auch beim Toggenburger Swiss-Piloten Beat Thurnheer.

«Swiss, Two-Niner-Niner Victor», tönt es aus den Lautsprechern im Cockpit. Captain Beat Thurnheer bricht das Gespräch mitten im Satz ab, hört den Anweisungen der Flugsicherung zu, greift nach dem Mikrofon, wiederholt den erhaltenen Befehl, die Flughöhe zu ändern, und dreht am entsprechenden Rädchen. Wenige Sekunden später setzt der in Mosnang wohnhafte Thurnheer das Gespräch exakt an der Stelle fort, an der er unvermittelt ausgestiegen ist. Währenddessen setzt die Maschine seinen Befehl um und sinkt um 2000 Fuss, rund 610 Meter. Eine solche Situation wird sich auf dieser Reise noch oft wiederholen. Immer, wenn das Rufzeichen dieses Swiss-Fluges von Zürich nach Porto ertönt, ist von Thurnheer Konzentration gefragt. Er muss die Anweisungen genauestens befolgen, damit er sich und seine Passagiere sicher ans Ziel bringt.

Der Arbeitstag beginnt für den Piloten indes bereits rund 75 Minuten vor Abflug. Im Operations Center der Swiss informiert er sich zusammen mit seinem Co-Piloten Thomas Geissdörfer über den bevorstehenden Flug. Insbesondere das Wetter wird analysiert. Auch mit der Kabinencrew tauschen sich die beiden Piloten kurz aus. Hier stehen die Passagiere im Fokus. Für den Rückflug wird eine volle Maschine erwartet. Beim Flugzeug mit der Kennung HB-IJS, ein Airbus A320, bedeutet das 180 Passagiere.

Immer wieder ein neues Team

Oft ist dieser Austausch gleichzeitig ein Kennenlernen. Bei der Swiss arbeiten rund 4400 Flugbegleiterinnen und Flugbegleiter. Auch die Crew im Cockpit kennt sich nicht immer schon vor dem Flug. Nur rund 350 der insgesamt 1350 Swiss-Piloten werden für Kurzstreckenflüge mit Maschinen der Airbustypen A319, A320 und A321 eingesetzt. «Es ist die grosse Herausforderung eines Captains, gemeinsam mit der Maître de Cabine das jeweils neu zusammengestellte Team zu formen», erklärt Thurnheer. Eine knappe Stunde vor dem für 11.45 Uhr geplanten Abflug durchschreitet die gesamte Crew die eigene Sicherheitskontrolle und fährt mit dem Crewbus zum Flugzeug. Einen Schlüssel brauchen sie nicht, um in das Flugzeug einsteigen zu können. «Auf das Vorfeld eines Flughafens kommt sowieso nur, wer sich dort aufhalten darf», erklärt Captain Thurnheer. «Im Zweifelsfall wird nach dem Verlassen des Flugzeuges die Tür versiegelt. So könnte ein unbefugtes Betreten festgestellt werden.»

Während die Flugbegleiterinnen – es ist auf diesem Flug in der Kabine nur weibliches Personal anwesend – die Kabine vorbereiten, absolviert Thurnheer den Pre-flight-Check. Er geht um das Flugzeug herum, prüft Reifen und Sensoren. Es ist alles in Ordnung, Thurnheer übernimmt das Flugzeug offiziell per Klick auf seinem Tablet-Computer. Nun ist er für den Flieger verantwortlich. Derweil meldet sich der Co-Pilot bei der Flugsicherung an und erhält die Angaben für den Abflug. Danach folgt, was Aussenstehende als Kauderwelsch bezeichnen würden. Für die beiden Piloten ist es das Abarbeiten von standardisierten Prozessen und einigen Checklisten.

Um 11.39 geht ein leichtes Ruckeln durch die Maschine. Rückwärts wir das Flugzeug vom Gate weggestossen, bis die Piloten selbst übernehmen können und den Flieger in Richtung Startbahn lenken. Dort erhält Pilot Thurnheer die Startfreigabe vom Tower. Er beschleunigt auf bis zu 270 Stundenkilometer. Über 70 Tonnen erheben sich scheinbar mühelos in die Luft. Bis das Flugzeug eine gewisse Höhe erreicht hat, wird mit klaren Ansagen kommuniziert. Nebensächliches hat keinen Platz.

Auch mit Autopilot immer hellwach

Ist diese Höhe erreicht, folgt eine ruhige Phase. Aber auch wenn der Autopilot tatsächlich vieles automatisch erledigt, die Piloten sind jederzeit hellwach. «Plötzlich kann ein unvorhergesehenes Ereignis eintreten und wir müssen in Sekundenbruchteilen alles in Perfektion aufgleisen», sagt Thurnheer. Für solche Situationen absolvieren die Piloten der Swiss unzählige Trainingseinheiten im Simulator. «Wir erarbeiten uns ein hohes Niveau von Wissen und Können, das wir hoffentlich gar nie brauchen», sagt Thurnheer. Entscheidend ist bereits die Ausbildung. Bevor die Piloten ein Cockpit von innen sehen, absolvieren sie ein fünfstufiges Auswahlverfahren. Nur etwa jede zehnte Bewerberin oder jeder zehnte Bewerber besteht dieses. Getestet werden beispielsweise die kognitiven Fähigkeiten, die Belastbarkeit oder auch die Teamfähigkeit. Wer diese Hürden meistert, darf die eineinhalbjährige fliegerische Grundausbildung zum Linienpiloten beginnen. Im Anschluss folgt eine sechsmonatige typenspezifische Ausbildung, beispielsweise für die verschiedenen Airbus-Modelle. Wer es bis hierhin geschafft hat, tritt als Co-Pilot auf der Kurzstrecke in den Liniendienst. Es folgen Co-Pilot auf der Langstrecke und dann – nach einer intensiven Ausbildung – der Meilenstein in jeder Pilotenkarriere, die Ernennung zum Captain auf der Kurzstrecke. Es folgt zum Schluss der Captain auf der Langstrecke. Thurnheer steht folglich auf der zweitobersten Karrierestufe. «Ich werde wohl irgendwann zwischen 2023 und 2025 auf die Langstrecke wechseln. Dann fliege ich noch etwa zwölf Jahre an Orte wie meine Lieblingsstadt Hongkong», prognostiziert er.

Als Langstreckenpilot wird er immer wieder länger von seiner Familie getrennt sein. Die Betreuung für die beiden Kinder sicherzustellen sei dabei mit einigem organisatorischen Aufwand verbunden, da auch seine Frau erwerbstätig ist. Es gebe aber auch Vorteile: «Ich bin zwar oft weit weg, aber wenn ich zu Hause bin, bin ich dafür ganz für meine Familie da.» Andere Väter hätten jeden Abend, er habe dafür mehrere ganze Tage am Stück, um mit der Familie den Alltag zu leben.

Nicht für alles gibt es Checklisten

Während Thurnheer vom Beruf erzählt, ertönt immer wieder die Stimme der Flugsicherung. Eine neue Flughöhe, ein anderer Kurs, oftmals ein Wechsel vom einen Mitarbeiter der Flugsicherung zum nächsten. «Der Himmel ist in grössere und kleinere Sektoren aufgeteilt.» Die Sprache indes sei überall gleich. «Sie ist darauf ausgelegt, dass man möglichst nichts falsch verstehen kann.» Auch deshalb heisst die Neun im Flieger-Englisch «Niner» und nicht bloss «Nine». Sowieso sei die Fliegerei sehr standardisiert. «Wir haben eigentlich einen eher unkreativen Job», sagtThurnheer. «Wir arbeiten, wo vorhanden, nach exakt definierten Vorgehensweisen. Das ist wichtig für die Sicherheit.» Nicht für alles gibt es aber Checklisten. «Der flexible Umgang mit unerwartet ändernden Gegebenheiten im Flugablauf, in der Kabine oder am Boden ist eine grosse Herausforderung und Ergänzung zum Aufgabenbereich eines Piloten.» Faszinierend sei für ihn, dass er täglich mit einem anderen Co-Piloten und einer neuen Kabinencrew eine einwandfreie Leistung erbringen müsse.

Mittlerweile ist die Maschine im Anflug auf Porto. Einige Kilometer vor dem Flughafen erfasst das Flugzeug die Signale des Landesystems. Die Piste ist noch nicht im Blickfeld. Das wird auch so bleiben, bis der Bordcomputer eine Entfernung von rund 300 Metern zum Boden ansagt. Dann taucht sie aus dem Nebel auf. Thurnheer landet sicher. Nun muss es schnell gehen. Es bleibt weniger als eine Stunde, bis das Flugzeug den Rückflug antreten muss. Dazwischen muss viel geleistet werden, um einen pünktlichen Abflug zu ermöglichen: Das Flugzeug kontrollieren und wieder bereitstellen, die Beladung bestätigen und übermässig viel Handgepäck in den Frachtraum verladen. Thurnheer und sein Co-Pilot bleiben ruhig. «Es ist wichtig, dass wir in den hektischen Situationen den Überblick behalten», sagt Thurnheer. Den Rückflug übernimmt der Co-Pilot. Im Cockpit wechselt man sich pro Strecke ab. Und auch wenn Thurnheer hierarchisch über dem Co-Piloten steht, begegnen sie sich auf Augenhöhe. «Bei der Swiss wird Wert darauf gelegt, dass wir einander sagen können, wenn etwas nicht richtig läuft», sagt Thurnheer. Das ist auch auf dem Rückflug nicht der Fall. Pünktlich setzt die Maschine um 17.30 Uhr wieder in Zürich auf.


Dieser Artikel erschien am 15. Oktober 2017 in der Ostschweiz am Sonntag.